Battersea Park

Hinter ihm polterten Lastwagen und Autos über die Albert Bridge Road, auf der linken Seite trieb die Themse gemütlich dahin und zu seiner rechten rauschte der Wind durch die Blätter der Bäume, die überall im Park verstreut standen. Reuels Nacht war kurz gewesen und um wieder einen klaren Verstand zu erlangen, hatte er sich gleich morgens, noch vor dem Frühstück, aufgemacht und war an der Themse entlang gewandert.
Im Battersea Park hatte er sich dann schließlich niedergelassen, einen dampfenden Kaffee, ein paar Straßen weiter gekauft, in der Hand, die Jacke dicht an den Körper gezogen, da die Sonne hinter dicken Wolken verborgen lag. Hier und da liefen Menschen in sportlicher Mannier durch den Park, während andere fast ebenso eilig zu ihrem nächsten Termin hetzten.
Reuel war kein Freund der Hektik. Er konnte auch nicht verstehen, wie man sich freiwillig so etwas antat und nur noch lebte, um hin und her zu eilen und das Leben dabei überhaupt nicht mehr genießen konnte. Wie zum Trotz schloss der Ravenclaw nun die Augen und ließ einfach nur die Geräusche auf sich wirken. Auch wenn so die Müdigkeit wieder in seine Glieder kroch und er sich gleichwohl wieder matt und schläfrig fühlte, so verharrte er doch noch eine Weile mit geschlossenen Liedern und öffnete sie erst wieder, als ihm nach einem Schluck Kaffee war, damit er nicht vollends auf der Parkbank, auf der er es sich bequem gemacht hatte, einschlief und noch von irgendwelchen Passanten geweckt und angesprochen wurde.

Nachdem sie weder hoch in die Wohnung, noch an ihr Fahrrad geschweige denn an ihr Portemonnaie gekommen war, hatte sich Euphemia missmutig dazu entschlossen eine weitere Runde zu laufen. Bis zum Battersea Park war es nur eine knappe halbe Stunde, wenn man die Strecke schnell laufend hinter sich brachte vielleicht nur zwanzig Minuten. Die Blonde wusste nicht genau wie lange sie gelaufen war, doch zumindest hatte ihr uralter Discman bereits um die acht Lieder gespielt. Begleitete vom rhythmischen pochen des Basses bog sie nun in die letzte Straße ein, die direkt zu dem kleinen Fleckchen Grün direkt an der Themse führte. Hier und da gab es ein paar Stände, die laut schreiend Essen und Kaffee anboten, aber die Slytherin riss sich zusammen. Kein Geld, kein Frühstück, so war das eben. Hätte sie wenigstens ihre alte rote Regenjacke mitgenommen, so hätten die Münzen darin vielleicht sogar für ein trockenes Brötchen oder einen halben Kaffee gereicht. So aber blieb die Läuferin hungrig und missgelaunt, selbst als ihre ausgetretenen Turnschuhe den saftig grünen Rasen berührten. Statt sich wie die restlichen Londoner auf irgendeine schmierige Parkbank zu setzen, beschloss Euphemia hierbei sich direkt auf die Rasenfläche nahe des Wassers zu legen und erst einmal durchzuatmen. Das Wummern der Musik war mittlerweile nichts mehr gegen ihren rasselnden Atem und den schmerzenden Brustkorb. Vielleicht hätte sie wirklich vor dem Laufen etwas essen sollen, doch im Moment war die einzige Möglichkeit dem ziehenden Schmerz zu entkommen so flach wie möglich liegen zu bleiben und einfach zu atmen.

Besorgt blickte Reuel zu den grauen, tief hängenden Wolken hinauf, die ebenso eilig, wie die zahlreichen Londoner im Park, so schien es, über den Himmel zogen, als seien sie auf der Jagd nach blauem Himmel, den sie verschlingen konnten. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, wenn sie dabei das Regnen zu vergessen gedachten, doch Reuel erwartete bereits die ersten Tropfen und wahrscheinlich würde es auch nicht mehr all zu lange dauern, bis London wieder zu dem wurde, was es war. Eine nasse, ungemütliche Stadt. Zumindest wenn man sich im Freien aufhielt. Neben einem gemütlichen Feuer ließen sich Regentage ohne weitere Anstrengungen aussitzen, sofern einen nicht die Langeweile überkam.
Bis zum Tropfenden Kessel war es weit und Reuel war nicht all zu erpicht darauf vom Regen bis auf die Haut durchtränkt dort anzukommen und so beschloss er seinen kurzen Aufenthalt im Battersea Park zu beenden und zu der Gaststätte, durch deren Hinterhof man die Winkelgasse erreichen konnte, zurückzukehren.
Nach nur wenigen Schritten blieb der Zauberer aus dem Hause Ravenclaw jedoch stehen, denn sein Blick, den er Richtung Theme gerichtet hatte, blieb an einer Gestalt hängen, die ihm merkwürdig bekannt vorkam. Interessiert verließ Reuel den Weg und trat auf den Rasen, um einen genaueren Blick zu riskieren. Als er dann schließlich bemerkt, wer da vor ihm im Gras lag, hätte er am liebsten entnervt gestöhnt und die Flucht angetreten, aber er konnte die Slytherin mit dem schmutzig-blonden Haar nicht einfach hier liegen lassen. Sie würde völlig durchweicht werden vom Regen und das sie sich eine Erkältung zuzog musste ja nun auch nicht sein.
Reuel überwand schweren Herzen seinen Fluchtinstinkt und überbrückte auch noch die verbliebenen Meter bis zur Slytherin und beugte sich schließlich über sie. Offenbar war sie außer Atem und wenn man Kleidung und Discman bedachte, dann ergab sich das Bild einer erschöpften Läuferin, die wohl gerade ihr tägliches Pensum überschritten hatte und nun entkräftet am Boden lag und keinen Schritt mehr machen wollte.
In der Annahme, dass sie den Discman noch immer angeschaltet hatte, grinste Reuel sie einfach nur schief an und formte lautlos mit seinen Lippen ein begrüßendes, wenn auch schlichtes Hey.

Als sie die ersten Tropfen auf ihrer Haut spürte, stieß Euphemia einen lautlosen Fluch aus. Selbst im Rennen war ihr Zuhause zu weit entfernt, als dass sie sich sicher sein konnte die Türschwelle trocken zu erreichen. Zudem pochte ihr Herz so unaufhörlich, dass sie glaubte es müsse bald vor Erschöpfung daran krepieren. Seit ihrer Geburt hatte die sportvernarrte Blondine immer wieder solches Herzrasen gehabt, welches letztendlich auf einen Fehler ihrer lebensspendenden Blutpumpe zurückzuführen war. Eigentlich hatte Rachel ihr genau aus diesem Grund das Laufen verboten, doch irgendwann musste auch diese einsehen, dass man die Slytherin nicht davon abhalten konnte und so gestand man ihr erst einmal kleinere Runden zu.
Nur heute war diese kleine Runde durch eine weitere ergänzt und überschritten worden. Schnappend versuchte das Schlangenmädchen genug Sauerstoff zu erhaschen, während dieser vom ahnenden Unwetter bereits zu Boden gepresst wurde. Währenddessen zuckten die letzten Töne von Tchaikovskys L'Overture wehmütig und verklangen schließlich. Die CD war zu Ende und für Euphemia wurde es Zeit die Augen aufzuschlagen und sich endlich in Richtung Zuhause zu verziehen.
Nur schien das Schicksal etwas Anderes geplant zu haben, denn kaum, dass die zitternden Augenlider sich geöffnet hatte, gaben sie den Blick auf ein nur allzu bekanntes Gesicht frei.
„Scheiße.“, fluchte Euphemia kurzatmig ohne auch nur den Versuch zu unternehmen sich aufzurappeln, „Wo kommst du jetzt bitte her?“

Wie zu erwarten, war die Slytherin überhaupt nicht begeistert von seinem zufälligen Auftauchen und Reuel konnte ihr es nicht einmal verübeln. Der gestrige Tag musste sie ziemlich aufgewühlt haben, ebenso wie ihn, und das es jetzt ausgerechnet er sein musste, der sich nun über sie beugte würde sie keinesfalls erfreuen, soviel stand fest.
"London ist wohl doch nicht groß genug, um sich aus dem Weg gehen zu können", mutmaßte der Ravenclaw und hielt der erschöpften Läuferin seine freie, rechte Hand hin, "Na los, du kannst hier nicht liegen bleiben, du musst ins Trockene."
Sich noch einen Tag mit der Slytherin herumschlagen zu müssen hatte Reuel eigentlich nicht im Sinn gehabt, aber wenn es nun doch sein musste, dann musste es eben sein. Zwar hatte er gestern Abend beschlossen, den mit ihr mehr oder weniger freiwillig verbrachten Tag kurzerhand zu vergessen und einfach so weiterzumachen wie bisher, aber die Slytherin hier kaputt im Park liegen zu lassen schien ihm auch nicht richtig zu sein und deshalb nahm er sich ein zweites Mal ihrer an. Wenn er Glück hatte würde sie womöglich erneut, wie bereits gestern passiert, weglaufen und er hätte wieder seine Ruhe.

Misstrauisch kniff die schmutzig blonde Slytherin ihre Augen zusammen. Warum zum Teufel sollte ausgerechnet er ihr helfen wollen? Vor allem nach ihrem wirrköpfigen Auftritt des gestrigen Tages, den sie noch immer nicht ganz verwunden hatte.
„Du musst mir nicht helfen. Ich wohne keine zwei Meilen von hier entfernt.“, gab die Blonde zur Auskunft und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Whitbeard hatte gestern mehr als deutlich gezeigt, dass er im Grunde nichts mit ihr zu tun haben wollte und so hatte sich Euphemia zu Recht gelegt, dass es ihr wohl ebenso ging. In seiner Nähe konnte sie kaum klar denken und verhielt sich vollkommen idiotisch. Das wollte sie weder noch einmal erleben, noch unbedingt provozieren. Warum er ausgerechnet in ihren Stadtteil kommen musste, war ihr schleierhaft. London hatte so viele hübsche orte, was musste der Ravenclaw sich ausgerechnet in Wandsworth aufhalten? Zumal man ihn in der Regel ohnehin nur im tropfenden Kessel oder der Winkelgasse antraf. Und Beides war ein ganz schönes Stückchen von hier entfernt. Euphemia musste es wissen, immerhin gab sie ab und an für die Busfahrt ein halbes Vermögen aus.

Reuel hatte seine Hand ganz umsonst ausgestreckt, denn die Slytherin dachte nicht einmal daran selbige zu ergreifen, sondern beäugte ihn lieber misstrauisch und verschränkte dann auch noch ihre Arme trotzig vor der Brust, woraufhin Reuel seinen Arm dann auch zurück zog und nur mit den Schultern zuckte.
"Dann halt nicht", meinte er gleichgültig, sah die Sitzende aber recht bald wieder besorgt an und um seinen guten Willen zu betonen, ging er schließlich in die Knie, damit er mit ihr auf Augenhöhe war, "ich kann dich hier unmöglich sitzen lassen und ich glaube kaum, dass du es noch bis nach Hause schaffst, es ..." Er blickte in den Himmel, den tiefgrauen Wolken entgegen und munter schlugen Regentropfen auf sein Gesicht ein und begannen sich an seiner Mütze haltsuchend fest zu klammern "... es wird nicht mehr lange dauern, dann fallen nicht nur ein paar einzelne Tropfen aus diesen Wolken."
Sein Blick glitt wieder zu ihren Augen, die ihn noch immer hinterfragend anblickten. Sie waren braun, nicht so dunkel wie seine, sie waren hellerer Natur und sie starrten unnachgiebig geradeaus. Mitunter furchterregend wäre ihr Blick gewesen, wenn das zarte Braun, das dem schlammigen Grund eines Flusslaufes glich, wenn man von oben durch das klare Wasser sah, nicht so eine Ruhe ausgestrahlt hätte.
"Meine Güte, ich will dich nicht entführen, jetzt schau nicht so kritisch", murmelte Reuel, hielt ihrem Blick dabei aber weiter stand.

„Ach ja?“, entgegnete Euphemia und bemühte sich völlig ruhig zu klingen, wenngleich ihr Herz sich noch immer nicht von der Lauferei erholt hatte. Eigentlich hatte sie durchaus vor sein Angebot anzunehmen, aber ihre Kurzatmigkeit ließ den gesamten Körper so schwer werden, dass die Slytherin nicht anders konnte als sich ganz flach ins Gras zu pressen und zu hoffen, dass es schnell vorüber ging. Sie wollte, dass er ging. So hilflos wie jetzt sollte sie nun wirklich niemand sehen, erst recht nicht dieser Kerl, der jede psychische wie physische Schwäche meisterhaft auszunutzen wusste.
„Hör zu Reuel.“, brachte die Sechzehnjährige nun zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, „Ich mag Regen. Also werde ich, wenn es dir nichts ausmacht, einfach liegen bleiben und nass werden.“
Es war gelogen. Das konnte Euphemia selbst mit Sicherheit sagen. Sie mochte Regen zwar schon, aber nur solange wie sie sich selbst an einem trockenen und warmen Ort befand und ihn ansehen konnte. Irgendwo mitten in London ohne eine Chance rechtzeitig allein aufzustehen, geschweige denn nach Hause zu kommen, war Regen das Letzte, was sie sehen wollte. Sobald sie den Ravenclaw verscheucht hatte würde sie sich unter irgendeinen Baum robben, ihren Körper an den Stamm pressen und abwarten. Dabei hatte die Slytherin nicht einmal ihr Uralthandy bei sich, mit dem außer Telefonieren nicht viel mehr möglich war. Zumindest hätte es gereicht um Daheim anzurufen. Aber selbst das fiel nun Buchstäblich ins Wasser.

Reuel seufzte schwer und warf seinen noch halbvollen Kaffeebecher achtlos beseite. Der Slytherin ging es offensichtlich schlechter, als sie zugeben wollte, denn ihr Atem ging unregelmäßig und ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen hatte sie Schmerzen in der Brust, die nicht aufhören wollten sie zu plagen. War sie wirklich nur erschöpft? Der Ravenclaw begann daran zu zweifeln und wurde so nur noch weiter darin bestärkt, dass es falsch war, die Slytherin hier im Park alleine zu lassen. Zur Not würde er halt eben auch hier bleiben und dann würden sie beide im Regen sitzen, nass werden, sich mies gelaunt beschimpfen und sich danach auf ewig hassen, aber das wäre es ihm wert. Soweit war es allerdings noch nicht und solange die Chance bestand die Slytherin vom Park wegzubekommen, bevor sich die Schleusen endgültig öffnete und das Festland unter Wasser gesetzt wurde, würde es der Ravenclaw auch weiter versuchen.
"Sei nicht so ein verfluchter Sturkopf. Du hast jetzt schon Atemprobleme, was passiert erst, wenn du anfängst zu frieren, weil du bis auf die Knochen nass bist, hm? Wenn du nicht freiwillig mitkommst, dann trage ich dich eben, ist mir doch egal, du magst mich ja so oder so nicht."

Knurrend schnappte die Slytherin nach Luft und verengte ihre Braunen Augen zu funkensprühenden Schlitzen: „Das wagst du nicht.“
Doch auch wenn sie die Worte so bedrohlich wie irgend möglich aussprach, war ihr gleichzeitig bewusst, dass sie ihn wohl kaum davon abhalten können würde, sollte es wirklich so weit kommen. Sie würde einfach hilflos in seinen Armen baumeln und wahrscheinlich recht kraftlos dabei auf ihn ein prügeln. Die einzige Möglichkeit sich irgendwie aus dieser bevorstehenden Tortur zu befreien, war die, sich endlich aufzusetzen. Kaum gedacht, stützte die Blonde ihre Handflächen schon auf den bereits recht feuchten Rasen und versuchte sich, die Zähne in ihre Unterlippe bohrend, aufzusetzen. Die ersten Tropfen perlten ihr bereits von der Stirn und so ganz war sich Euphemia nicht im Klaren darüber, ob es sich nun um die Reste des Schweißes oder neuerlichen Regenguss handelte. Schließlich jedoch schaffte sie es sich aufzusetzen und ihre Widerstandsrede klaglos fortzuführen: „Was erhoffst du dir überhaupt davon? Du kannst mich doch ebenso wenig ausstehen wie ich dich. Was soll also der scheiß Ich-bin-dein-Retter-Kram? Willst du dich irgendwie über mich lustig machen, hä? Findest du das witzig?“
Nach so viel gesprochenen Worten war es schwer neuen Atem zu finden, vor allem, da die Luft sich immer weiter zusammensog , wie sie es Üblicherweise vor einem Gewitter Tat.
„Lass. Mich. Einfach. In. Ruhe.“, presste Euphemia in einem letzte Akt der Aufmüpfigkeit hervor und stützte im selben Moment ihre Arme hinter sich ab um etwas besseren Halt zu finden, während ihre Lungen immer mehr des kostbaren Sauerstoffs forderten. Das einzig Positive an ihrer Aufgebrachtheit war wohl, dass sie nun langsam merke, wie ihr Puls sich verlangsamte. Sie hatte das Schlimmste vorerst überstanden.

Das die Slytherin noch die nötige Kraft für einen ihrer aufbrausenden Wutanfälle haben würde, hatte Reuel nicht gedacht und erstaunt zog er seinen Kopf ein wenig nach hinten und die Augenbrauen nach oben, als das Gewitter aus Worten über ihn hereinbrach.
Es dauerte, bis die Slytherin sich ausgeschimpft hatte und erneut nach Luft rang und Reuel fühlte sich fast schon ein wenig schuldig, weil er der Grund dafür war, dass sie sich wegen ihm so verausgabt hatte, doch hatte er keine Lust mehr auf dieses alberne Theater und so ignorierte er dieses Gefühl ohne zu zögern.
"Dann lass dir halt nicht helfen, aber beschwere dich bitte später nicht darüber, dass du das allein durchstehen musstest", erwiderte Reuel mit beleidigtem Tonfall.
Er war nicht dazu verpflichtet ihr zu helfen, zudem hatte er auch am wenigsten Grund dazu und dennoch kniete er jetzt hier bei ihr, was aber offensichtlich schlicht und ergreifend sinnlos war, wollte sich die junge Hexe doch auf Teufel komm raus nicht helfen lassen.
Mit einem Ruck stemmte sich der Ravenclaw wieder auf die Beine und begutachtete die mittlerweile aufrecht sitzende Slytherin ein letztes Mal. Anscheinend schien es ihr auf wundersame Weise besser zu gehen und Hilfe würde sie wohl nicht länger brauchen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte sich Reuel um und stapfte in Richtung Brücke davon. Sollte sie doch schauen wo sie blieb, er würde sich jetzt ein Dach suchen, unter das er sich stellen konnte, um nicht vollends durchweicht zu werden vom immer stärker werdenden Regen.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihrem Wunsch so schnell nun doch nachkommen würde. Die erwartete Zufriedenheit, die sie sich von seinem Verschwinden erhofft hatte, blieb ebenfalls aus. Stattessen fühlte sich die Sechzehnjährige beinahe etwas wehleidig, als der schwarz gekleidete Ravenclaw irgendwo zwischen den Bäumen und damit aus ihrem Blickfeld verschwand. Kaum einen Augenblick später begann der Regen. Der stotternde Atem hatte sich kaum vertreiben lassen und hätte die Slytherin es nicht besser gewusst, hätte sie wohl gedacht, dass Tränen den Platz der fallsenden Regentropfen auf ihrem Gesicht eingenommen hatten. Lächerlich. Dabei hatte sie nicht einmal einen Grund zu weinen. Außer vielleicht, dass Reuel ihr wirklich den letzten Nerv raubte, sie sich ausgeschlossen hatte, seit gestern keinen Happen zu essen bekommen hatte und es zu allem Überfluss auch noch regnete. Schluchzend legte die Blonde, deren haare bereits nach ein paar Augenblicken schwer an ihren Körper kleben blieben, sich zurück und murmelte: „Ich kann eigentlich Regen nicht leiden.“
Das kleine Geständnis, welches wohl nur in den Ohren des eben verschwundenen Ravenclaw Sinn gemacht hätte, verhallte ungehört an der Luft, während sich Euphemias gammlige Joggingklamotten mehr und mehr mit klammer Kälte vollsogen.

Kurz bevor er die Straße erreicht hatte, gewann dann doch das schlechte Gewissen die Oberhand und Reuel verfluchte sich selbst, als er auf dem Absatz kehrt machte und wieder zurücklief. Warum konnte ihm dieses närrische Mädchen nicht einfach gleichgültig sein? Er kannte sie kaum, wusste nur, dass sie launisch und verrückt war und das waren nicht gerade zwei Eigenschaften die anziehend auf ihn einwirkten und trotzdem war er besorgt um sie. Wahrscheinlich würde sie ihm den Kopf abreißen, sobald er bei ihr angelangt war und würde ihn mit Schimpfworten überhäufen oder noch schlimmeres, aber er konnte einfach nicht anders, als sie abermals aufzusuchen und ihr beizustehen, so dämlich das auch sein mochte.
Den Kragen seiner Jacke soweit wie möglich hochgeklappt, die Nase dahinter verborgen und die nasse, schwere Wollmütze in einer der Taschen verstaut lief er grummelnd zurück, die Augen zusammen gekniffen und die Stirn in Falten gelegt. Er sehnte sich nach einer warmen Decke und einem heißen Kaffee, aber bevor er in den Genuss dieser beiden Dinge kam, musste er dieses störrische Mädchen aus dem Pack zerren und das würde noch anstrengend genug werden.

Mittlerweile hatten sich ihre Klamotten so sehr mit Wasser vollgesogen, dass das Grau ihrer knielangen Jogginghose eher an dunkles Schwarz und das Blau ihres Tops an schmutziges Wasser erinnerten. Trotzdem hatte es Euphemia nicht geschafft sich zu beruhigen. Ihre Augen waren mittlerweile gerötet und verrieten nur unschwer, dass die in ihrem Gesicht klebende Feuchtigkeit nicht gänzlich vom unbarmherzigen Regenfall stammte. Die Slytherin hatte ihre Arme um die Knie geschlagen und sich beinahe wie ein kleiner Igel zusammengekugelt um dem heftiger werdenden Wasserguss weniger Angriffsfläche zu bieten, dennoch blieb ihr die Anwesenheit Reuels auch dieses Mal nicht Verbrogen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie jeden Schritt des Dunkelhaarigen war, als wäre es ihr eigener. Er hatte die Sockenmütze in seine Tasche gleiten lassen und ein Zipfel davon hing noch schwer mit Wasser vollgesogen heraus. Tatsächlich musste Euphemia, trotz der miesen Situation einräumen, dass er gar nicht so unattraktiv ohne das hässliche ding war. Zwar pappte ihm sein Haar regenschwer und strähnig am Kopf, aber auf eine seltsame Art und Weise schmeichelte ihm dieser Begossene-Pudel-Look.
Die Slytherin hob nun, da er kaum einen halben Meter neben ihr Halt gemacht hatte den Kopf ein wenig, vermied es dabei aber nur allzu deutlich ihm in die Augen zu sehen. Ihren kleinen Anfall von emotionaler Schwäche musste der Ravenclaw ja nicht unbedingt mitbekommen. Stattdessen begann sie mit einer Frage, auch wenn sie dabei eher aufs Wasser starrte, sodass man glauben könnte, die Worte seien an die Themse gerichtet: „Bist du jetzt gekommen um mir das letzte bisschen Würde zu nehmen?“

Schon von Weitem konnte Reuel die zusammengekauerte Person ausmachen, die mitten auf der Rasenfläche saß und sich unbeholfen vor dem andauernden Regen zu schützen versuchte. Ohne es wirklich zu beabsichtigen beschleunigte der Ravenclaw seine Schritte um schneller zu der Slytherin zu gelangen, die ein wahrlich trauriges Bild bot, im strömenden Regen am Ufer der Themse sitzend und völlig allein. Der Park war mittlerweile wie ausgestorben. Sämtliche Besucher hatten sich vor dem Regen geflüchtet, nur einer stapfte unaufhaltsam voran, immer tiefer in den Park hinein.
Es war nutzlos und dennoch wischte sich Reuel den Regen mit einer Hand aus dem Gesicht und verteilte dabei seine klebrigen Haare quer über die Stirn, als er endlich bei der Slytherin stand und auf sie hinab blickte. Ihre Reaktion auf seine Rückkehr war, wie zu erwarten gewesen, unfreundlich und keineswegs freudig. Dankbarkeit hatte Reuel auch nicht erwartet und anstatt sich abermals auf ein Wortgefecht mit ihr einzulassen, zog er einfach seine Jacke aus, legte sie über ihre Schultern und sank neben ihr ins Gras, den Blick ebenfalls auf die Themse gerichtet.

Statt eine Antwort zwischen den Regentropfen hindurch schlüpfen zu hören, spürte Euphemia den sanften Druck einer wärmenden Jacke auf ihren Schultern. Unwillkürlich heilt sie den Atem an. Nicht etwa, weil der Geruch des warmen Stoffs unangenehm auf sie gewirkt hätte, sondern eher, weil das genaue Gegenteil der Fall war.
„Was soll das?“, fragte die Blonde sichtlich verwirrt und riskierte sogar einen kurzen Blick auf den schweigenden Jungen neben sich, „Du kannst doch sicher Apparieren. Worauf wartest du also? Du musst dich nicht aufweichen lassen. Und nimm die Jecke mit. “
Eigentlich hatte sie die Worte so spitz wie möglich machen wollen, doch wie sie heraus kamen, waren sie nur ein billiger abklatsch des unfreundlichen Tones, den sie sonst an den Tag legte. Wenn sie ehrlich war, konnte man beinahe glauben, dass sie freundlich gemeint waren. Zumindest war der Ravenclaw nicht gerade dafür bekannt, dass sein immunsystem intakt war und würde sicherlich eine deftige Erkältung davontragen, wenn er länger hier herum saß. Aber wen kümmerte das schon. Immerhin war der Park wegen diesem beschissenen Regen so leergefegt, wie sonst nur selten. Mitbekommen hatte diese mehr oder minder freundlichen Worte also eh niemand, wenn man von Reuel absah. Aber der sagte ja eh nichts mehr. Wahrscheinlich war er es einfach Leid keine Antworten auf Euphemias bohrende Fragen und stechende Bemerkungen zu haben. Die Slytherin selbst hätte zweifelsohne ebenfalls geschwiegen, wenn man ihr mit solch unverhohlener Abneigung begegnet wäre.

"Ich kann nicht apparieren", antwortete Reuel ohne Umschweife, "ich bin irgendwie zu dämlich dafür. Was denkst du warum ich dir gesagt habe, ich würde dich tragen? Wenn ich apparieren könnte, dann würden wir schon längst im Tropfenden Kessel sitzen."
Nun wanderte sein Blick zu der Slytherin und ein dünnes Lächeln zierte dabei seine Lippen. War es gestern seltsam gewesen mit ihr an einem Tisch zu sitzen, diese Situation übertraf die gestrige Begegnung um Längen. Er musste an den ein oder anderen Liebesfilm denken, den er gesehen hatte und wenn man es genau bedachte, dann wäre dies der perfekte Moment für einen Kuss gewesen, aber allein schon die Vorstellung, dass er seine Lippen auf die der Slytherin legen würde war vollkommen absurd und lächerlich. Das er ihr seine Jacke über die Schultern gelegt hatte war einzig und allein eine Geste des guten Willens gewesen und sicherlich keine plumpe Anmache, oder wie sie es ausgedrückt hatte, es handelte sich dabei nicht um einen scheiß Ich-Bin-Dein-Retter-Kram.

Er konnte es also nicht. Nun, irgendwie hatte Euphemia erwartet, dass alle Ravenclaws so etwas wie Superstreber waren und eine Kleinigkeit wie das Apparieren spielend meistern könnten. Dass dem nicht so war zerstörte ihr Weltbild zu mindestens in Ansätzen. Trotzdem schlich sich durch Kälte und Nässe ein schlechtes Gewissen hindurch.
„Das tut mir leid.“, murmelte die Blonde und streckte ihm nun die Hand entgegen, ohne ihn dabei auch nur anzusehen, „Euphemia Holmes, sechzehn Jahre alt, am fünften November geboren, Slytherin. Das wolltest du doch wissen oder?“
Warum genau sie nun doch ihren Namen offenbarte, konnte Euphemia selbst nur raten. Naheliegend war wohl, dass sie dem Schwarzhaarigen einfach nichts schuldig bleiben wollte. Eine Jacke und Gesellschaft gegen einen Namen. So schwer war das nicht. Entweder das oder der Hunger, der sie seit heute Morgen nicht mehr losließ, hatte die Blonde nun ganz um den Verstand gebracht.

Es brauchte eine Weile, bis Reuel reagierte und ihre Hand ergriff. Aus heiterem Himmel hatte sie eine komplette Kehrtwende vollzogen und ihn damit völlig überrumpelt. Nicht nur, dass sie sich bei ihm entschuldigt hatte, nein, sie war sogar noch weiter gegangen und hatte ihm endlich ihren Namen verraten und zusätzlich noch ihren Geburtstag. Das sie aus dem Hause Slytherin war, nun ja, anscheinend wollte sie ihn an ihre Herkunft erinnern, damit er nicht vollkommen vergaß, dass sie eigentlich böse war und ihn nicht leiden durfte, weil er aus Ravenclaw war und somit zu den Strebern gehörte, die nicht gemocht werden durften. Slytherins hatten es, wenn man es recht bedachte, nicht leicht, sie durften niemanden mögen, nur damit sie in das Profil ihres Hauses passten und ihr Leben bestand daraus andere zu schikanieren und unglaublich böse zu sein.
"Der fünfte November. Deshalb also die kleine Theatereinlage im Tropfenden Kessel?"
Ihre Hand hielt Reuel noch immer fest umschlossen, so als könne die Slytherin, die ab sofort den Namen Euphemia trug, plötzlich aufspringen und die Flucht antreten, weil sie sich gerade ihm gegenüber geöffnet hatte und er müsse das verhindern. Es war kein unangenehmes Gefühl ihre Haut zu berühren und auch der strömende Regen schien auf einmal an Bedeutung verloren zu haben.

Euphemia nickte.
„Ich wollte dir einen versteckten Hinweis auf meinen Geburtstag und einen nicht grade Versteckten auf meinen Lieblingsfilm geben.“, erklärte die Blonde und stellte noch im selben Atemzug fest, dass sie wohl der eigentliche Freak von Beiden war, „Willst du sonst noch was wissen?“
Warum auch immer sie nun freundlich zu ihm war, es gefiel der Blonden irgendwie. Zumindest machte sie keine Anstalten die Hand des Ravenclaws loszulassen. Nicht solange diese Wärme ausstrahlte und der Regen sich als so verflucht kalt erwies. Sollte sie sich doch später dafür verfluchen. Verrückt werden würde sie so oder so, allein durch die Tatsache, dass er neben ihr saß. Da konnte sie ihm im Gegenzug zumindest auch noch seine Wärme stehlen. Die Jacke hatte sie ja immerhin schon.

"Oh, ich habe viele Fragen", erwiderte Reuel mit einem leisen Lachen, "aber fürs Erste begnüge ich mich mit deinem Namen und deinem Geburtstag. Euphemia."
Es war merkwürdig ihren Namen zum ersten Mal auszusprechen, als sei er etwas verbotenes, wie der Name von Du-Weißt-Schon-Wer, aber ihm gefiel der Klang und so verglich er ihrer beider Namen, nur um festzustellen, das sich Reuel rau und unbequem anhörte, während der Name der Slytherin sanft und wohlwollend klang und irgendwie gar nicht so recht zu ihr passen wollte.
"Nun, eine Frage habe ich dann doch ... was war gestern mit dir los?"

„Das ist eine Frage, die du nicht beantwortet bekommst. Und jetzt rück mal du Freak, mir ist kalt.“, entgegnete die Blonde in üblicher Manier, auch wenn ihr Ton nun eher neckend, als abfällig klang. Ohne weitere Vorwarnungen rückte sie näher an Ravenclaw heran um sich dessen Wärme absolut sicher zu sein. Für den Moment war es völlig egal, dass der Regen seine gesamte Kleidung durchnässt hatte und sie sich genauso gut hätte an eine nasse Wollsocke kuscheln können. Ihr war einfach nur schweinekalt und die einzige Möglichkeit das zu ändern war eben diese.
Bei dem Gedanken kam ihr gleich noch eine weitere Idee und so öffnete Euphemia recht bald erneut ihren Mund und stellte sofort eines klar: „Ich bin jetzt dran mit fragen.“
Ohne weiteres zögern langte sie in die Tasche seines Mantels und beförderte die muffige Wollmütze zu Tage, die ein wenig nach nassem Hund roch und nun mehr denn je an einen unförmigen Klumpen Garn erinnerte.
„Warum in aller Welt trägst du ständig dieses Ding auf deinem Köpf spazieren?“

Als Euphemia kurzentschlossen näher rückte ließ es Reuel widerstandslos geschehen. Zwar fühlte er sich gleich ein weniger unwohler in seiner Haut, doch wollte er die Slytherin nicht vor den Kopf stoßen, indem er panisch von ihrer Seite wich. Das sie seine Frage nicht beantwortet nahm der Ravenclaw dann auch fast gleichgültig hin, da es ihm momentan eh ziemlich nebensächlich erschien, was gestern gewesen, was gerade passiert war weitaus bedenklicher.
Froh darüber, dass Euphemia ein solch belangloses Thema, zumindest hatte es für sie wohl diesen Anschein, wie seine Mütze aussuchte, um die Konversation fortzuführen, ließ er auch nicht lange auf eine Antwort warten, sondern erklärte der frechen Slytherin sogleich, warum er diese seltsam anmutende Mütze trug.
"Ich hab diese Mütze selbst gehäkelt und wollte sie meinem Vater zu Weihnachten schenken, nur ... nur ist er am 18. Dezember gestorben. Seit diesem Tag trage ich dieses Ding mit mir spazieren. Das sind jetzt schon über sechs Jahre. Dir gefällt sie nicht, nicht wahr?"

Die Slytherin drehte sich wortlos ein Stückchen zu ihrem provisorischen Heizkörper um und musterte diesen mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Natürlich gefällt sie mir nicht. Die ist potthässlich.“, entgegnete sie, hatte dabei aber ein breites Grinsen auf ihren Lippen. Natürlich war es furchtbar taktlos jemanden so zu antworten, nachdem er gerade vom Tod seines Vaters erzählt hatte. Ein normaler Mensch hätte Mitleid gezeigt oder zumindest geheuchelt. Aber was machte Reuel schon um so viel besser?
Immerhin hatte er einen Vater gehabt, der ihn anscheinend so sehr geliebt hatte, dass er sogar so ein hässliches Sockenvieh zu Weihnachten hätte haben wollen. Euphemias hingegen hatten sie nicht einmal bei sich haben wollen. Was aber im Grunde auch nicht weiter schlimm war, immerhin hatte sie ja noch zwei wunderbare Adoptiveltern und deren kleinen Sohn.
„Du solltest sie wegwerfen.“, fuhr die Blonde unverwandt fort und hatte ihre Stimme dabei etwas gesenkt, sodass diese nur noch schwerlich gegen den regen ankam, „Man sollte Erinnerungen im Herzen aufbewahren, nicht auf dem Kopf, wo sie einem so leicht geklaut werden können…Und in deinem Fall zu müffeln anfangen.“

"Nett", kommentierte Reuel tonlos, als Euphemia offen darüber sprach, was sie von seiner Mütze und ihrem Erinnerungswert hielt.
Aber was hatte er auch anderes erwartet? Sie war noch immer eine Schlange und ganz ohne Gemeinheiten schien sie nicht auszukommen. Natürlich wären ein paar einfühlsamere Worte angenehmer gewesen, aber er war ja selbst schuld, er hatte sie ja nach ihrer Meinung gefragt, es stand ihm also nicht zu sie jetzt für ihre Worte anzuklagen.
"Ich weiß das sie müffelt", sagte er stattdessen und zupfte das Wollteil wieder aus ihren Fingern, "und schick ist sie auch nicht, aber sie gehört einfach zu mir und deshalb werde ich sie auch weiterhin tragen."
Trotzig zog er sich die zurückgewonnene Mütze wieder auf seinen Kopf und begann abermals in Richtung Themse zu blicken. Sollte sie doch über ihn und seinen Sachen denken und sagen, was sie wollte, bewirken würde sie damit rein garnichts.